Wie man Kulturen klassifizieren kann, hat Forscher weltweit schon seit längerer Zeitbeschäftigt. Ein Modell ist jedoch für Verhandlungen besonders hilfreich. Es unterteilt Kulturen in vier Cluster, in der Fachsprache „Syndrome“ genannt: „Ehre“, „Gesicht“, „Interesse“ und „Würde“. Diese Cluster sind Aspekte sozialer Interaktionen, Sammlungen an geteilten Glaubenssätzen, Werten, Verhaltensweisen, Handlungsmustern innerhalb einer kulturellen Gruppe oder zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen einem bestimmten Thema gegenüber. Die kulturelle Dominanz eines jeden Clusters kann als symbolisches Kapital, das Individuen und Gruppen Macht gibt angesehen werden.
Das Modell hilft dabei, kulturell unterschiedliche Konfliktorientierungen und -verhalten, wie auch die Konsequenzen dieser Unterschiede für die Verhandlungs- und Konfliktlösungspraxis besser zu verstehen. Dadurch kann man die Reaktion von Einzelpersonen, Gruppen und Kulturen auf konflikt- und verhandlungsbezogene Reize besser beschreiben und vorhersagen. Es bildet einen nützlichen Rahmen, um besser zu verstehen, wie sich Kultur auf eine Verhandlungsstrategie, auf Menschen innerhalb einer Kultur, wie auch auf Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft auswirkt.
Der auffälligste Unterschied zwischen den vier kulturellen Syndromen besteht in der Art und Weise, wie sie erhalten, wiedererlangt und / oder wiederhergestellt werden.
Ehre ist der zentrale Einflussfaktor für individuelles und gemeinschaftliches Verhalten in muslimischen, arabischen und südlichen mediterranen Kulturen, zeigt aber auch starke Ausprägungen in einigen Osteuropäischen Ländern. Ehre beschreibt dabei einen Verhaltenskodex, der die Pflichten eines Individuums innerhalb einer sozialen Gruppe definiert. Es ist ein nicht-materialistischer, verdienstvoller, emotionaler und funktionaler Wert, der die (eigene und gesellschaftliche) Wahrnehmung des sozialen Status und des Prestiges eines Individuums und / oder einer Gruppe bezeichnet. Der Ausdruck "Ein Mensch ist das, was er oder sie in den Augen anderer Menschen ist." fasst die Denkweise kurz und prägnant zusammen.
Jeder Konflikt in einer „Kultur der Ehre“ bringt Schaden für die Wahrnehmung der Ehre einer ganzen Gruppe, selbst wenn es sich nur um eine kommerzielle Konfliktsituation handelt oder im Konflikt nur zwei Individuen als Konfliktparteien involviert sind. Dies hängt damit zusammen, da jede Einzelperson immer Teil einer größeren familiären Referenzgruppe (z.B. eines Clans) ist. Konflikte in Clan-basierten islamischen und / oder arabischen Kulturen werden sehr schnell zu Inter- und / oder Intra-Clan-Konflikten, die weit über die einzelnen Individuen, die den Kern des Konflikts (der Konflikte) ausmachen, hinausgehen.
Die Wahrnehmung einer oder beider Seiten, kurz vor dem Verlust der Ehre zu stehen, ist immer ein Teil des Konflikts und sollte neben inhaltlichen Fragen behandelt werden. Wenn Ehre als verloren betrachtet wird, ist das Streben nach Wiederherstellung ein absolutes kulturelles Muss, da sich Konflikte ohne sie nicht auf eine Lösung hinbewegen können.
Menschen in “Kulturen der Ehre“ sorgen sich hauptsächlich um die Erhaltung und Wiederherstellung der eigenen Ehre und die der Gruppe, der sie zugehörig sind, und fühlen sich nur dafür verantwortlich. Wenn man als Verhandlungsführer mit zwei sich streitenden Parteien dieser Kultur verhandelt, muss man sich zunächst auf die Diskutanten und deren subjektive Wahrnehmung der Ehre konzentrieren, um im nächsten Schritt prozessstabilisierende Maßnahmen einzuleiten. Wenn man einem Verhandlungspartner aus dieser Kultur gegenübersteht, sollte man sich auf kompetitivere Vorverhandlungen einstellen, sowie darauf, dass emotionale Taktiken ein stärkeres Gewicht als der Informationsaustausch einnehmen werden.
In der westlichen Welt wird Ehre heutzutage eher in seiner folkloristischen Form, also als emotionales und rituelles Artefakt verstanden. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kernwerte, die eine Gesellschaft unter „Ehre“ subsumiert, nicht mehr existieren. Vielmehr hat ihre kulturelle Bedeutung im Vergleich zu anderen Werten nachgelassen, obwohl sie weiterhin Bestand haben. Die traditionelle Ehrenkultur im Osten ist noch intakt, während sie im Westen weniger gesellschaftliche Auswirkungen vorweist.
Selbst bei Verhandlungen im westlichen Kulturkreis trachten wir danach, eine Verhandlung „gesichtswahrend“ durchzuführen, vor allem wenn es um das (taktische) Verlassen des Verhandlungstisches geht. Doch es gibt sogenannte „Kulturen des Gesichts“, in denen dieser Aspekt von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Konfliktverhaltens ist, vor allem in ostasiatischen Kulturen (z. B. Chinesisch und Japanisch). In diesen weist das Konzept des „Gesichts“ eine hohe Durchdringung auf und übt einen großen Einfluss auf das soziale Miteinander aus.
Dabei ist das „Gesicht“ vor allem ein unterschwelliges psychologisches Selbstbild, das sich aus erstrebenswerten sozialen Eigenschaften und dem positiven sozialen Wert, den eine Person für sich beansprucht, zusammensetzt. Das Bedürfnis zur Gesichtswahrung geht weit über das einzelne Individuum hinaus, denn es spiegelt gleichzeitig den Anspruch einer ganzen Gruppe wider. Die „Kultur des Gesichts“ ist ein diffuses Konstrukt, bei dem sich im Laufe einer Interaktion mit anderenPersonen rote Linien schärfen. Es stellt eine Form des Respekts dar, die mehrere Individuen im Verlauf einer Interaktion zueinander äußern.
Die Anerkennung und Wahrung des Gesichts ist für jede Person aus dieser Kultur ein Bedürfnis, für das gekämpft wird. Es stellt den unmittelbaren Respekt dar, den eine Person von einer anderen bei sozialen Begegnungen erwartet. Gesicht kann sowohl gewonnen als auch verloren werden – während Bemühungen zur „Gesichtsgewinnung“ eher weniger unternommen werden, wäre ein Gesichtsverlust eine ernste Angelegenheit. Gesichtsverlust entsteht dann, wenn ein Individuum durch sein Handeln (oder das von ihm nahestehenden Personen) die wesentlichen Anforderungen an die soziale Stellung seines Gegenübers nicht erfüllt.
Gesicht ist zwar weniger beständig als Ehre, doch auch hier sollte man sich bei kompetitiven (Vor-) Verhandlungen darauf einstellen, dass emotionale Taktiken ein stärkeres Gewicht als der Informationsaustausch einnehmen werden. Im gesamten Verlauf einer Verhandlung werden sich Menschen aus einer Kultur des Gesichts darum bemühen, das eigene, aber auch das Gesicht des Verhandlungspartners zu erhalten und bei Bedarf wiederherzustellen.
Das „Interesse“ ist der zentrale kulturelle Marker nordeuropäischer und nordamerikanischer Kulturen. Dabei werden Interessen als Grundbedürfnisse und Motivatoren einer Person verstanden und in fünf Kerninteressen unterteilt: Sicherheit, wirtschaftliches Wohlergehen, Zugehörigkeitsgefühl, Anerkennung und Kontrolle über das eigene Leben. Sie können in aufsteigender Reihenfolge auf verschiedenen Ebenen organisiert werden. Bei divergierenden Interessen gibt es distributive und integrative Herangehensweisen, wobei Letztere darauf abzielen, einen gemeinsamen Mehrwert durch Zusammenarbeit zu schaffen, um bestmöglich die Interessen beider Parteien zu befriedigen. Vereinfacht dargestellt gibt es drei typische Reaktionen auf Interessens-Unterschiede: Versuch zu beherrschen, Kompromiss oder Integration (kreative Einbeziehung der Interessen der Parteien als Teil einer Lösung).
Als kulturelles Syndrom scheint das Interesse die Ansätze zur Verhandlung und Konfliktlösung, die wir hauptsächlich in individualistischen, industrialisierten Kulturen sehen, am besten zu charakterisieren - nämlich in Westeuropa, Nordamerika und kulturell ähnlichen Orten wie Australien und Neuseeland. In diesen Gesellschaften konzentrieren sich die Disputanten mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit auf die inhaltlichen Fragen im Kern des Konflikts. Sie gehen eher auf Bedürfnisse als auf Standpunkte ein und sind der Ansicht, dass in Konflikten eher eine Chance liegt, als dass sie ganz negativ und sogar gefährlich sind.
„Interessenbasierte Kulturen“ können als jene Kulturen definiert werden, die sich den Verhandlungen und Konflikten mit der Ansicht nähern, dass Konflikte lösbar, „win-win“ -Lösungen für viele Situationen möglich und dass Klarheit sowie analytisches und kreatives Denken nützliche Attribute zur Konfliktlösung sind.
Lange Zeit hat die Forschung „Würde“ als kulturelles Syndrom, als Unterscheidungsmerkmal zwischen Kulturen angesehen. Ansicht, von der man heute weitestgehend abgelassen hat. Denn Würde ist ein universelles menschliches Bedürfnis, das nicht speziell einer einzelnen Kultur oder Gruppe zugeordnet werden kann. Selbst die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 setzt die Würde als einen zentralen, universellen menschlichen Wert voraus (Artikel 1).
Würde ist von grundlegender Bedeutung, da sie für ein gutes Leben unerlässlich ist und ein Schlüsselfaktor für Selbstachtung, Rechenschaftspflicht, Integrität, konsequentem Verhalten und moralischen Urteilen ist. Unter Würde versteht man einen inneren Friedenszustand, in dem man den Wert und die Verletzlichkeit eines jeden Lebewesens akzeptiert und anerkennt, dass alle Menschen damit geboren werden.
Würde stellt einen einheitlichen, universellen moralischen Wert dar, der in allen Kulturen identifiziert werden kann. Die chinesische Kultur misst Würde sowohl intrinsische, als auch extrinsische Dimensionen zu. Der Islam sieht Würde als einen inneren Wert an, der von Gott auf die Menschheit übertragen wurde. In „Kulturen der Ehre“ ist Würde u.a. als Ergebnis der Wiederherstellung der Ehre angesehen und sie ist ein wesentliches Element der Sulh (zentrales Element muslimisch-arabischer Inter- und Intra-Clan-Streitbeilegung, der ursprünglich das Gegenteil von Krieg bedeutete und bereits bei den Beduinen zur Beilegung von Stammesfehden im Einsatz war). In der arabischen Tradition der Vergebung und der Würde haben die Ältesten diese Werte traditionell genutzt, um bestimmte Verhaltensweisen der Toleranz und des Respekts zu fördern. In den meisten östlichen und westlichen Philosophien nimmt Würde einen herausragenden Platz ein.
In einigen Kulturen bedeutet der Schutz der Würde, Schaden und Leiden des Einzelnen zu verhindern und Fairness und Gerechtigkeit zu fördern. In anderen Kulturen wird Würde durch Loyalität gegenüber dem Stamm / der Sippe / der Familie, durch das Unterordnen selbst informeller Autorität und durch die Wahrung der Heiligkeit von Religion erhalten. Wie man „Würde“ definiert und interpretiert hängt somit von der Wahrnehmung der anderen kulturellen Syndrome (Ehre und Gesicht) ab, da sich in jedem kulturellen Cluster die Art und Weise unterscheidet, wie bestimmte Gefühle wie Respekt erzeugt oder verletzt werden.
Menschen gewinnen und erhalten ihre Würde, indem sie Widerstandsfähigkeit und Selbstbeherrschung zeigen. Ihre Interessen hingegen erfüllen sie, indem sie individuelle oder gemeinschaftliche Ziele und Ressourcen erreichen oder aufrechterhalten.
separieren Sie nicht die Person vomProblem (wie Sie es in Interessens-Kulturen tun würden). Beginnen Sie mit der Würdigung und ggf. Wiederherstellung der Ehre der Verhandlungspartner und sprechen Sie erst im Anschluss die Probleme an. Achten Sie auf Veränderungen der Ehr-Wahrnehmung bei der Ergründung von Interessen – gehen Sie automatisch davon aus, dass Ehre ein Kerninteresse ist und würdigen Sie jedes Entgegenkommen des Gegenübers als „ehrenhaft“. Generieren Sie so viel wie möglich an „ehrenvollen“ Optionen, entschuldigen Sie sich für jede als Beleidigung wahrgenommene Option, vergessen Sie aber nie Ihre eigene Ehre. Lassen Sie den Verhandlungspartner die Endvereinbarung anhand eigener Kriterien messen, pochen Sie nicht auf einheitliche Messkriterien.
separieren Sie nicht die Person vom Problem (wie Sie es in Interessens-Kulturen tun würden). Bringen Sie amAnfang der Verhandlung ausreichend Zeit auf, um Vertrauen und Harmonie herzustellen, bevor Sie Probleme ansprechen. Fokussieren Sie sich eher auf Gesichtswahrung als auf Positionen. Unterbreiten Sie Angebote „stückchenweise“ und beobachten Sie genau die Reaktionen und die Empfindsamkeit Ihres Gegenübers. Generieren Sie eine Vielzahl an Gesicht schaffenden und wahrenden Optionen, vermeiden Sie extreme Forderungen, stimmen Sie vertrauensstärkenden Optionen als erstes zu. Pochen Sie nicht auf einheitliche Messkriterien für die Endvereinbarung, Ihr Verhandlungspartner soll sich mit dem Ergebnis innerhalb seines sozialen Kreises wohl führen.