Annette Dittert hat direkt nach der Abstimmung im Unterhaus eine kurze und prägnante Zusammenfassung geliefert. Die verhandlungstechnische Aufbereitung des Brexits wird erst am Ende des Verfahrens vollständig erfolgen können. Und es wird Zeit in Anspruch nehmen. Eine Vielzahl an Experten, Politiker und Bürger sehen in Theresa May die Hauptschuldige für den vorliegenden Schlamassel. Die Gemengelage ist dennoch so komplex, dass diese Sicht meines Erachtens nach zu kurz greifen würde.
Eins steht sicher fest: aus Verhandlungssicht hat Theresa May gravierende Fehler gemacht. Wenn es immer noch Zweifler gibt, dass es in der Weltpolitik vielerorts an Verhandlungskompetenz mangelt, ist u.a. der Brexit ein gutes Gegenbeispiel.
Der Vorbereitung einer so komplexen Verhandlung wie dem Austritt aus der Europäischen Union kann nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden. Wie in jeder anderen Verhandlung muss man sich auf drei Komplexe vorbereiten: auf die Themen, auf den Prozess und auf die Personen. Zu Letzterem gehört auch die sorgfältige Zusammensetzung des eigenen Verhandlungsteams und der Definition von Rollen. Diese Rollenklarheit zahlt auf den Prozess ein und hilft, Themen zu bearbeiten und „durchzukriegen“. Eine Korrektur im Laufe des Verhandlungsprozesses ist schwierig, bringt viel Unruhe und führt im besten Falle lediglich zu Verzögerungen.
Vereinfacht dargestellt gibt es drei Kernrollen: die des Lead Negotiators, des Captains und des Decision Makers. Der Lead Negotiator ist der verantwortliche Verhandler. Er hat einen definierten Verhandlungsspielrahmen und sitzt mit dem Verhandler der Gegenseite am Tisch.
Der Captain ist die nächst höhere Instanz und Eskalationsebene. Er erarbeitet mit dem Decision Maker den Verhandlungsspielraum, legt anspruchsvolle, dennoch realistische Ziele fest, sowie den Ausstiegspunkt. Der Captain berät den Lead Negotiator beim Zusammenstellen des restlichen Verhandlungsteams, ist erster Ansprechpartner des Lead Negotiators falls im Laufe der Verhandlungen kurzfristige Entscheidungen notwendig werden (die nicht originär im Verhandlungsspielraum liegen) und stimmt sich eng mit dem Decision Maker ab, um eine mögliche Vereinbarung durchzukriegen.
Der Decision Maker ist - wie der Name schon vermuten lässt - die Person oder die Instanz, die als Letztes der ausgearbeiteten Vereinbarung zustimmen muss.
In der EU mussten alle Mitglieder einer Austrittsvereinbarung zustimmen. Somit gab es zwei Institutionen, die als Decision Maker fungierten: der Europäische Rat und das Europäische Parlament. Um alle Mitglieder zu einer gemeinsamen Linie zu bringen und im Laufe der Verhandlung zu halten, waren in beiden Institutionen interne Verhandlungen notwendig. Also wurden eigene Brexit-Unterhändler institutionalisiert: Guy Verhofstadt für das Europäische Parlament, Didier Seeuws für den Europäischen Rat. Letzterer hatte Donald Tusk als Captain. Bereits kurze Zeit nach Bekanntgabe des Austrittsbemühens Großbritanniens stand der Lead Negotiator seitens der EU fest: Michel Barnier. Er hatte als Captain Jean-Claude Juncker zur Seite.
Long story short: fünf Personen waren das Gesicht des EU Verhandlungsteams und waren in der Lage, die Positionen aller Mitgliedsstaaten zu konsolidieren und zu vertreten. Barnier musste sich nur mit Seeuws und Verhofstadt abstimmen, die wiederum die Verantwortung hatten, nach innen zu arbeiten und die jeweiligen Decision Maker Institutionen zusammen zu halten. Als Eskalationen dienten zwei Captains: Juncker und Tusk. Beide hielten sich an ihre Rolle und kamen zu den Verhandlungen nur an den Stellen, an denen es zwingend notwendig war. Aus Verhandlungssicht hat die Europäische Union die Zusammenstellung des Verhandlungsteams und den Zuschnitt der Rollen perfekt gelöst!
Auf der anderen Seite des Verhandlungstisches sah es ganz anders aus, das schonmal vorweg genommen. Der erste Lead Negotiator war David Davis. Dieser wurde dann von Dominic Raab abgelöst. Soweit so gut. Dann ernannte sich jedoch Theresa May zum Lead Negotiator und degradierte Raab zum Stellvertreter. Das Modell behielt sie bei, selbst nachdem Raab seine Funktion aufgab und Barclay an seiner Stelle trat. Auf der Captain Position war zu Beginn der Brexit Verhandlungen David Cameron, der jedoch schnell von May abgelöst wurde. U.K. hatte ebenfalls zwei Decision Maker: das Unterhaus (House of Commons) und das Oberhaus (House of Lords), wobei Ersteres das Hauptentscheidungsorgan war.
Eigentlich hätte es auf der Seite Großbritanniens einfacher laufen müssen, denn es gab nur einen maßgeblichen Entscheider und weniger Personen im Vergleich zur EU. Dennoch kam es anders – May manövrierte sich selbst in diese Situation. Ihre Rolle als Captain sollte sich vor allem darauf beschränken, mit dem Unterhaus (Decision Maker) zu arbeiten. Wie oben beschrieben, hätte sie hier bereits zu Beginn Positionen sammeln und konsolidieren sollen – ein Ziel, ein Limit, mögliche Optionen etc. mit dem Unterhaus erarbeiten. Davon ist zu wenig passiert. „Mays Kritiker werfen ihr vor, immer allein kämpfen zu wollen, beratungsresistent zu sein, keine Koalitionen zu bilden. Von Anfang anlegte sie sich fest: „Brexit ist Brexit“ sagte sie immer wieder wie ein Roboter, weshalb sie ihren Spitznamen „Maybot“ nicht mehr los wird“. (FAZ)
Stattdessen ernannte sie sich auch noch zum Lead Negotiator. Dadurch fiel eine Eskalationsebene weg. Und sie kämpfte nun an zwei Fronten: mit der EU und mit dem eigenen Unterhaus. Des Weiteren degradierte sie den früheren Lead Negotiator zum Zaungast. Wenn Sie mit einem Team verhandeln und merken, dass der Captain ebenfalls am Tisch sitzt - mit wem verhandeln Sie dann? Mit dem designierten Verhandlungsführer, oder mit der darüber liegenden Entscheidungsebene? In einem Anfall von Machtstreben entwickelte sich May selbst zum Flaschenhals und verlor das wichtige Vorhaben - den Decision Maker einzubinden und zu informieren – aus den Augen. Das fiel ihr auf die Füße.
Distributive Taktiken
May hat bisher im Verhandlungsprozess gegenüber der eigenen Verhandlungsseite (!) distributive Taktiken eingesetzt: Drohungen, Ultimaten, Drama („Königreich würde auseinanderfallen“).Diese können funktionieren, aber dafür muss man sich streng daran halten. Die Drohung, Mays Deal sei alternativlos, entlarvt selbst ein Nicht-Kenner der Materie als Unfug. Alternativen gibt es einige, im Detail untersucht und analysiert wurden nur wenige. An von ihr selbst gestellte Ultimaten hat sich May ebenso nicht gehalten. Das Problem dabei ist, dass man durch die Inkonsequenz gänzlich an Glaubwürdigkeit verliert.
Kurz bevor die vorläufige Vereinbarung mit der EU feststand, versuchte May ebenfalls das Verhandlungsteam der EU zu untergraben. Bevor sie sich mit Juncker traf, wahrscheinlich mit ihrem „Captain-Hut“ und nicht als Lead Negotiator, war sie bei Angela Merkel zu Besuch. Dies war nicht das erste Mal, dass U.K. versucht hat, einzelne Mitglieder für sich zugewinnen, um die Einigkeit in den Decision Maker Institutionen der EU ins Wanken zubringen.
BATNA
Jede Verhandlung hat eine Alternative. Ob sie attraktiv ist oder nicht steht auf einem anderen Blatt Papier. Die Alternative zum Brexit-Abkommen war und ist die No-Deal Variante, ein unkoordinierter Austritt. In der Vorbereitungsphase einer komplexen Verhandlung muss man sich mögliche Alternativen zu einer Einigung anschauen. Selbst während die Verhandlungen laufen muss man parallel daran arbeiten, die eigene Alternative zu stärken. Großbritannien hat aber erst nach über einem Jahr im Verhandlungsprozess angefangen, sich mit der „No-Deal Alternative“ zu beschäftigen und potentielle Auswirkungen auf das Land zu bewerten.
Annette Dittert beginnt ihren Kommentar mit der Aussage: „Man könnte Mitleid mit Theresa May haben, aber man sollte es nicht. Denn die düsteren Aussichten, vor denen sie und ihr Land nun stehen, hat sie im wesentlichen sich selbst zuzuschreiben“. Aus Verhandlungssicht kann ich dieser Aussage nichts mehr hinzufügen.
Die FAZ schrieb in einem Artikel zu May „Sie hat gekämpft und gekämpft, ist nach jedem Rückschlag wiederaufgestanden und letztendlich doch gescheitert“. Die Rückschläge, die sie erlitten hat, sind jedoch nicht (wie oft üblich) dem gegnerischen Verhandlungsteam zuzuschreiben, sondern ausschließlich May selbst. Die eigene Verhandlungsseite so sträflich zu vernachlässigen und alle Rollen an sich zu ziehen – das überlebt kein Verhandlungsteam. Weder in der Politik, noch in der Wirtschaft.
Ich finde es insbesondere auch deswegen bedauerlich, weil Frauen generell im Namen von Gruppen besser verhandeln. Theresa May hat somit auch dem Ansehen von Verhandlerinnen extrem geschadet.