Zahlreiche Verhandler denken, dass sie ihr erstes Angebot mit Fakten und Argumenten unterstützen müssen, um ihrer Forderung mehr Gehalt zu geben. Manche sind vielleicht der Ansicht, dass selbst ein schwaches Argument, dass die Forderung unterstützt, die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Ihr Verhandlungspartner auf die Forderung eingeht. Denn wenn man mit der Forderung schon den Anker für die weitere Diskussion wirft, müsste doch ein Anker, der von Argumenten gestützt wird, noch wirkungsvoller sein.
Forschungen auf diesem Gebiet haben jedoch das Gegenteil gezeigt: wenn ein Verhandler sein erstes Angebot rechtfertigt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sein Gegenüber negativ darauf reagiert. Der Grund dafür liegt im Gefühl Ihres Verhandlungspartners, dass Sie den Spielraum einengen und ihm das Denken abnehmen möchten. In Situationen, in denen es für Ihr Gegenüber einfach ist Gegenargumente zu präsentieren, sind diese i.d.R. weniger zugänglich für den Anker-Effekt.
Beispiel:
Maaravi et al. haben ein Experiment durchgeführt, bei dem eine Person für 190.000 Dollar ihre Wohnung verkaufen wollte. Potentielle Käufer sollten ein Gegenangebot unterbreiten. In manchen Fällen hat der Verkäufer seinen Preis rechtfertigt (neuerliche Renovierung, Aufzug im Haus etc.) und bekam „harte“ Gegenangebote. Die Informationen, die er zur Rechtfertigung heranzog, waren für die potentiellen Käufer ebenfalls leicht zugänglich und manche erinnerten sich, dass die Wohnung bspw. keinen Parkplatz, keinen Balkon etc. hatte. Die Überzeugungsversuche des Verkäufers hatten mehr Erfolg in den Fällen, in denen sich die Käufer mehr anstrengen mussten, um die ausgewiesenen Argumente zu behalten.
Die daraus resultierenden Erkenntnisse haben konkrete Implikationen für Verhandlungen:
- Prüfen Sie im Vorfeld ob Ihr Gegenüber leicht an Informationen für Gegenargumente kommen kann. Wenn dies der Fall sein sollte, seien Sie sich bewußt, dass Ihre Argumentationsversuche nach hinten losgehen können. Ihr Gegenüber könnte jedoch auch besser für Ihren Anker zugänglich sein, wenn Sie neue Informationen (neulich reduzierte Preise, bisher vertrauliche Informationen) zur Unterstützung heranziehen.
- Suchen Sie nach Widersprüchen und Diskrepanzen.Falls Ihr Gegenüber als Erstes ein Angebot unterbreitet und es mit Argumenten unterstützt, suchen Sie nach Informationen die inkonsistent sind und präsentieren Sie diese als Gegenargumente. Das hilft Ihnen den Anker-Effekt des Gegenübers zu überwinden.
- Vermeiden Sie Extreme. Unterbreiten Sie als erstes Angebot eine Forderung, die nah an Ihrem Optimum liegt, aber achten Sie darauf, dass das Angebot Ihren Gegenüber nicht beleidigt oder in extremen Stress versetzt. In diesen Situationen wird er/sie dann schnell nach Gegenargumenten suchen, um Ihre Forderung zu entkräften.
- Scheuen Sie nicht das Risiko. Ein erstes Angebot zu unterbreiten birgt auch Risiken. Nichtsdestotrotz ist es in zahlreichen Situationen hilfreich, als Erster den Anker zu setzen, anstatt sich anzustrengen den Anker des Gegenübers zu überwinden.
- Halten Sie Stille aus. Vielen Menschen fällt es sehr schwer Stille auszuhalten. Dies kann jedoch eine äußerst wirkungsvolle Methode sein auf Ihren Gegenüber einzuwirken. Unterbreiten Sie das erste Angebot, ohne viel Rechtfertigung, setzten Sie den ersten Anker und schweigen Sie. Lassen Sie Ihren Verhandlungspartner „kommen“ und beobachten Sie sorgsam seine Reaktion auf Ihr Angebot.